- musikalische Moderne ab 1890
- musikalische Moderne ab 1890Die Geschichte der Musik im 19. Jahrhundert verläuft - ähnlich wie die anderer Künste - als ein Prozess, der von einer relativ einheitlichen Tonsprache um 1800 ausgeht und zu einer Vielzahl immer stärker auseinander strebender Stilrichtungen um 1900 führt. Angesichts dieses Stilpluralismus der Musik um 1900, der es unmöglich macht, hier Begriffe wie »Spätromantik« oder »Impressionismus« zu verwenden, die nur Teilaspekte beschreiben, wurde vorgeschlagen, stattdessen von einer - stilistisch durchaus offenen - »musikalischen Moderne« zu sprechen, die sich dann (mit fließenden Grenzen) von 1890 bis zu den Anfängen der Neuen Musik um 1910 erstreckt.Charakteristisch für diese Zeit ist das Nebeneinander stärkster Gegensätze. Wie in der Kunst und Literatur des »Fin de siècle« steht einem Hang zur Dekadenz - zum Beispiel in Opern wie »Pelléas et Mélisande« (1902) von Claude Debussy oder »Salome« (1905) von Richard Strauss - eine optimistische, nach Neuem strebende »Aufbruchsstimmung« gegenüber, als deren Symbol der Beginn der Tondichtung »Don Juan« von Strauss stehen kann. Die Diesseitsfreude dieser und anderer Straussscher Tondichtungen steht im Kontrast zur Weltflucht und Mystik etwa des »Poème de l'extase« (1908) von Aleksandr Skrjabin. Gegensätze im einzelnen Werk selbst zeigen manche Orchesterwerke von Max Reger und Gustav Mahler, deren Monumentalität und Weitung der Form eine kammermusikalische Differenzierung und solistische Führung der Instrumente keinesfalls ausschließt. Und im Hinblick auf das Ganze des Musiklebens besteht eine fast unüberbrückbare Kluft zwischen den immer komplexeren Kompositionen der gehobenen Kunstszene und der einfachen, publikumswirksamen Unterhaltungsmusik.Bezeichnend für die Zeit um 1900 ist ferner eine Öffnung des Blicks über den europäischen Raum hinaus auf die Musik anderer Kulturen. So machte ein Gamelanorchester aus Java auf der Pariser Weltausstellung von 1889 das Publikum erstmals mit einer Kunsttradition außereuropäischer Musik und ihrem Instrumentarium bekannt. Das hat viele Komponisten dazu veranlasst, fernöstliche Tonfolgen und Klangformen mit den Mitteln des abendländischen Tonsystems und seiner Instrumente nachzuahmen. Ein so gewonnenes neuartiges Kolorit durchzieht beispielsweise die Oper »Madame Butterfly« (1904) von Giacomo Puccini. Auch Debussy verwendete in mehreren Klavierwerken Skalen und Klänge, zum Beispiel Pentatonik, Ganztonleitern, kreisende oder parallel verschobene Akkordik, die sich an asiatischem Tonmaterial orientieren.Ästhetische Bestrebungen, die seit der Frühromantik versuchten, die Musik und die übrigen Künste, namentlich die Dichtung, einander anzunähern, waren bereits in den Musikdramen Richard Wagners und den sinfonischen Dichtungen Franz Liszts seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wirksam geworden. Diese Tendenz verstärkte sich in der Musik um die Jahrhundertwende. Neben der Bindung an die Literatur, wie sie in der Oper mit ihren literarisch anspruchsvollen Stoffen sowie im Lied und in programmatischen Orchesterwerken deutlich hervortritt, wird hierbei der Versuch deutlich, philosophische Gedanken musikalisch auszudrücken und als ein Mittel der Grenzüberschreitung zwischen den Künsten einzusetzen. Die Tondichtung »Also sprach Zarathustra« (1896) von Strauss ist ein solcher Versuch und zudem ein Niederschlag der außerordentlichen Wirkung, die die Philosophie Friedrich Nietzsches auf die Kunstproduktion der Zeit hatte. Noch durchgreifender ist der Einfluss philosophischer und weltanschaulich religiöser Strömungen im sinfonischen Werk Mahlers. Seine zweite Sinfonie (1894) gipfelt in einer musikalischen Vergegenwärtigung des Jüngsten Tages am Ende aller Zeiten, seine dritte Sinfonie (1899) ist eine Darstellung der irdischen und kosmischen Seinsstufen von der unbelebten Materie über die Sphäre der Pflanzen und Tiere, der Menschen und Engel bis hin zur Liebe Gottes, und seine achte Sinfonie (1911) verbindet in zwei Sätzen riesigen Ausmaßes zwei - wie es ihm erschien - für die europäische Geistesgeschichte fundamentale Texte, den lateinischen Pfingsthymnus »Veni creator spiritus« und die Schlussszene aus Goethes »Faust«.Werke dieser Art dokumentieren zugleich die Vermischung traditioneller Gattungen, wie sie ebenfalls für diese Zeit symptomatisch war. Bei Mahler durchdringen sich Sinfonie und Lied sowie Sinfonie und Kantate, aber auch - wie bei anderen Komponisten - sinfonische und kammermusikalische Gattungselemente. Eine in der Sinfonie entwickelte Differenzierung des Ausdrucks und der Motivverarbeitung bestimmte in der Nachfolge Wagners die führenden Werke der Opernliteratur. Poetische Programme, zuvor Kennzeichen lyrischer Klavierstücke und sinfonischer Dichtungen, finden sich nun auch in der Kammermusik, bereits im Streichquartett »Aus meinem Leben« (1876) von Bedřich Smetana und - musikalisch sehr intensiviert - im Streichsextett »Verklärte Nacht« (1899) von Arnold Schönberg.Parallel zu all diesen Veränderungen vollzog sich als das vielleicht bedeutsamste Anzeichen einer zu Ende gehenden Epoche die allmähliche Lösung der Musik von der traditionellen Ordnung und Gesetzlichkeit der Tonalität. Gleitende, nicht mehr funktional aneinander gebundene Akkorde, neue Skalenformen und Klangschichtungen aus Dreiklängen verschiedener Tonarten in den impressionistischen Werken Debussys zeigen das ebenso wie die chromatisch polyphonen Linienbildungen bei Reger und Strauss, oder das tonal nicht mehr ohne weiteres erklärbare »Klangzentrum« in den Klavier- und Orchesterwerken Skrjabins. Am konsequentesten in dieser Hinsicht erscheint die Entwicklung bei Schönberg. Auch er löste sich zunächst streckenweise von den überkommenen harmonischen Gesetzen, zum Beispiel durch die Quartenschichtung von Akkorden, ging dann aber 1908 und 1909 in den »George-Liedern« opus 15 und den Klavierstücken opus 11 einen entscheidenden Schritt weiter zu einer durchgängigen Atonalität, also zu Akkordstrukturen, die an keiner Stelle mehr auf einem tonalen Zentrum beruhen.Prof. Dr. Peter Schnaus
Universal-Lexikon. 2012.